Napoleon ist noch nicht sehr groß. Komplexe hat er deswegen keine. Er drängelt sich zwischen die anderen Kälber, die alle einen Kopf größer sind als er. Zweimal springt er vor Übermut in die Luft und die Großen machen ihm gutmütig etwas Platz in ihrem Kälberbereich. „Wenn sie zwei, drei Wochen alt sind, beginnen die Kälber, alleine ihre Umgebung zu erforschen“, erklärt Anja Frey. Sie ist Bäuerin auf dem Völkleswaldhof im schwäbischen Hohenlohe und Napoleon eines der Kälber ihrer 50 Milchkühe. Dass Napoleon sich frei bei seiner Mutter, im Stall und im angrenzenden Laufhof bewegen kann, liegt daran, dass er etwas Besonderes ist: ein Bruderkalb und damit hat er Glück.
Was hat Milch mit männlichen Kälbern zu tun?
Kühe geben nur Milch, wenn sie Nachwuchs haben. Damit die Milch stetig fließt, werden die Kühe zwei, drei Monate nach der Geburt erneut besamt, sodass jedes Jahr ein Kalb zur Welt kommt. Rund die Hälfte davon sind männliche, die andere Hälfte weibliche. Bullen- und Kuhkälber also. Mit Bullenkälbern kann ein auf Milcherzeugung spezialisierter Landwirt nichts anfangen, sie geben schließlich keine Milch. Von den Kuhkälbern braucht er nur gut die Hälfte später als Nachwuchs für ausscheidende Milchkühe. Die anderen sind für ihn ebenso überflüssig wie die Bullenkälber.
Deshalb verkaufen die allermeisten Landwirte, konventionell und bio, ihre Bullen- und die überzähligen Kuhkälber schon nach wenigen Wochen an konventionelle Mäster. Auslauf und Bewegung im Stall gibt es in diesen Betrieben nicht. Jedem Kalb stehen maximal 1,8 Quadratmeter Platz in festen Buchten zu. Damit sie möglichst schnell an Gewicht zulegen, erhalten die Kälber Milchersatz auf der Basis von Pflanzenfetten und billigen Eiweißen, zusammen mit Kraftfutter. Vorbeugend bekommen die meisten Tiere Antibiotika, da in den Mastbetrieben Kälber aus vielen Höfen neu zusammengemischt werden. Zudem sind die Tiere, gestresst durch den Transport und die neue Umgebung, besonders anfällig. Viele Kälber landen nach qualvoller Reise in Spanien oder Nordafrika.
Bis sie beim Mäster gelandet sind, wachsen sie in den allermeisten Fällen von der Mutter getrennt auf und werden aus Eimern mit Saugnippel versorgt. Bio-Kälber erhalten in dieser Zeit Kuhmilch, wenn auch nicht von der eigenen Mutter. Konventionelle Kälber werden bereits in dieser Zeit mit Milchersatz getränkt.
Warum konventionelle Kälbermast nicht artgerecht ist
„Die konventionelle Kälbermast ist effizient, aber nicht artgerecht. Wir wollten da nicht mitmachen“, sagt Anja Frey. Deshalb dürfen schon seit 20 Jahren die Kälber am Völkleswaldhof bei der Mutter bleiben und deren Milch trinken. Diese kuhgebundene Kälberaufzucht trennt Mutter und Kalb nicht schon nach wenigen Tagen. Bis 2014 verkauften die Freys – wie viele ihrer Bio-Kollegen – einen Teil der männlichen Kälber an konventionelle Mäster. Seither ziehen sie die Tiere selbst auf oder geben sie an einen Demeter-Betrieb zur Mast ab. Um das Fleisch besser vermarkten und andere Bauern beteiligen zu können, entwickelte Anja Frey die Idee vom „Bruderkalb“. Der Titel entstand in Anlehnung an die Bruderhahn-Initiative, es sind aber auch überzählige weibliche Tiere mit gemeint.
Auf dem Völkleswaldhof bleiben alle Kälber die ersten drei Monate bei ihren Müttern, liegen bei ihnen im Stall und gehen mit auf die Weide. Kuhkälber, die auf dem Hof bleiben, werden danach von ihren Müttern getrennt und kommen in den Jungviehstall. Alle anderen bleiben vier bis sechs Monate bei ihren Müttern. Sind sie etwa 250 Kilogramm schwer, werden sie entwöhnt und bald darauf geschlachtet. Eine Trennung gibt es immer, ob nach der Geburt oder nach sechs Monaten. Aber diese Zeit hatten Kuh und Kalb gemeinsam.
Die Kälber trinken bei ihren Müttern oder Ammen den ganzen Tag über. Und zwar rund 12 Liter von den 20 bis 25 Litern, die eine Kuh üblicherweise gibt. Um sicherzustellen, dass sie genug Milch bekommen, tragen die Mütter bunte Bänder am Hinterlauf. Der Mitarbeiter im Melkstand sieht dadurch, in welchen Eutern er Milch für die Kälber lassen muss. „Ein Kalb, das am Euter saugt, trinkt in den ersten drei Monaten etwa 1200 Liter Milch“, sagt Anja Frey. Sie füllt einen Teil der Milch ihrer Kühe selbst ab und vermarktet sie als Vorzugsmilch.
Der größere Teil geht an die Bio-Molkerei Schrozberg. Gut 52 Cent netto bekommt sie dort für den Liter. Das heißt, ein Dreimonatskalb hat bereits für 600 Euro Bio-Milch getrunken. Bis zur Schlachtung kommen so mehr als 1000 Euro zusammen, plus Arbeitszeit, plus sonstige Kosten – und verteilen sich auf 120 bis 170 Kilogramm Schlachtgewicht. Damit das Geld wieder reinkommt, bräuchte sie rund 10 Euro fürs Kilo Kalbfleisch – die sie zurzeit nicht bekommt. Zum Vergleich: für ein Kilo konventionelles Kalbfleisch erhält der Bauer etwa fünf Euro vom Schlachthof. Bis das Fleisch im Laden liegt, kommen noch die Kosten fürs Schlachten, Verarbeiten und den Handel hinzu.
Hier werden männliche Kälber wertgeschätzt
Zu Beginn hatte Anja Frey das Fleisch ihrer Kälber noch über eine Metzgerei vermarktet, doch als die ersten Kollegen nach ihren Erfahrungen fragten, war klar, dass es eine größere Lösung brauchte. So startete sie mit einem weiteren Demeter-Betrieb, zwei Bioland-Höfen und der Hilfe der Bio-Musterregion Hohenlohe die Bruderkalb-Initiative. „Wir haben ein Logo entwickelt und Standards festgelegt, etwa dass die Kälber mindestens drei Monate von der Mutter oder einer Ammenkuh gesäugt werden“, erzählt Anja Frey. Die Bäuerliche Erzeugergemeinschaft Schwäbisch Hall übernahm das Schlachten und Verarbeiten der Tiere. Metzger, Restaurants und Lebensmittelhändler konnten als Abnehmer gewonnen werden. „Im September 2019 haben wir die ersten Kälber als Bruderkalb-Initiative vermarktet.“ Heute hat die Initiative 50 Mitgliedsbetriebe in ganz Baden-Württemberg, vermarktet jede Woche im Schnitt zehn Kälber und kann die Nachfrage kaum decken.
Im Januar 2021 zeichnete das Bundeslandwirtschaftsministerium die vier Gründer mit dem Bundespreis Ökologischer Landbau aus. „Vielen Kollegen brennt das Thema auf den Nägeln“, weiß Anja Frey aus zahlreichen Gesprächen. Kuh und Kalb nach wenigen Tagen trennen und die Kälber konventionell vermarkten, das macht kein Bio-Landwirt gerne. Immer mehr ziehen deshalb Konsequenzen.
Diese Lösungen bieten Bio-Landwirte für die Kälberaufzucht
Saro Ratter leitet bei der Schweisfurth-Stiftung das Projekt „Kuhgebundene Kälberaufzucht“. Von ihm moderiert haben aktive Gruppen wie die Bruderkalb-Initiative, die Ökomelkburen in Norddeutschland und die Demeter-Heumilchbauern im württembergischen Allgäu die „Interessengemeinschaft kuhgebundene Kälberaufzucht“ gegründet. Sie arbeitet mit verbindlichen Kriterien für teilnehmende Betriebe. So gilt zum Beispiel eine Mindesttränkzeit von drei Monaten, der Betrieb muss ein Milchviehbetrieb sein und als Ganzes mitmachen, kann also nicht nur zwei Tiere als Alibi mitlaufen lassen, und er muss ein Verbandsbetrieb mit Tierwohlkontrolle sein.
Unterstützung kommt von Verbänden und Verarbeitern. „Damit schaffen wir sowohl für Betriebe als auch für Verbraucher Orientierung und Klarheit“, sagt Ratter. Das ist wichtig, denn es gibt schon erste Trittbrettfahrer. Der Discounter Lidl etwa verkauft seine „haltbare fettarme Bayerische Bauernmilch“ inzwischen mit einem selbst gemachten Logo „Kuhgebundene Kälberaufzucht“ – und antwortet nicht auf Fragen zu Kriterien und Zertifizierung.
Milch oder Mast – wenn Kälber zu Wegwerfware werden
- Seit der Jahrtausendwende ist die Milchleistung pro Kuh von durchschnittlich 7000 Liter im Jahr auf 9150 Liter gestiegen. Die Landwirte stellten mehr milchbetonte Rassen wie schwarz-bunte Holsteiner in ihre Ställe und die Kühe dieser Rassen wurden auf immer mehr Milchleistung gezüchtet.
- Die Kälber solcher Turbo-Milchkühe setzen weniger Fleisch an als der Nachwuchs von Zweinutzungsrassen wie Fleck- oder Braunvieh. Dementsprechend zahlen die Mäster für Holstein-Kälber nur 10 bis 20 Euro. Mit Folgen für die Tiere: „Männliche Kälber von Milchrassen wurden nach unseren Erhebungen insgesamt schlechter versorgt als weibliche“, heißt es in einer Studie der Tierärztlichen Hochschule Hannover, für die 765 Milchviehbetriebe mit 190 000 Kühen untersucht wurden. Insgesamt starben in den untersuchten Betrieben zehn Prozent der Kälber in den ersten drei Monaten.
Die kuhgebundene Kälberaufzucht ist noch eine Nische in der Nische: In Deutschland gibt es laut Statistischem Bundesamt 57.000 Milchviehbetriebe mit 3,9 Millionen Milchkühen und 3,4 Millionen Kälber im Alter bis zu acht Monaten. Bio hat an diesen Zahlen nur einen kleinen Anteil: Auf etwas mehr als 4000 Betrieben leben rund 180.000 Milchkühe und etwa 160.000 Kälber. Kuhgebundene Kälberaufzucht betreiben zurzeit 100 bis 200 Höfe – fast alle bio – genaue Zahlen gibt es nicht.
Daher begleiten das staatliche Thünen-Institut sowie die Universität Hohenheim und die Hochschule Weihenstephan-Triesdorf in Kooperation mit der Schweisfurth-Stiftung Bio-Milch- und Fleisch-Betriebe, sammeln Daten etwa zur Wirtschaftlichkeit und entwickeln neue Wertschöpfungsketten. Die braucht es dringend, denn kuhgebundene Kälberaufzucht kann nur funktionieren, wenn die so aufgezogenen Bio-Tiere auch gegessen werden, sei es als Kalb, als Jungrind oder Weideochse.
Warum Milch und Fleisch zusammen gehören
„Der Bio-Rindfleischmarkt ist durch große Mutterkuhherden in Ostdeutschland und durch die Altkühe aus der Bio-Milcherzeugung gut abgedeckt“, erklärt Saro Ratter. Das Fleisch der kuhgebunden aufgezogenen Tiere ist deutlich teurer. Damit die Landwirte auf ihre Kosten kommen, müssen sie es als Spezialität vermarkten – und einen höheren Milchpreis bekommen. „Wir führen dazu Gespräche mit den Molkereien“, sagt Anja Frey. Bei der Molkerei Schrozberg etwa betreibe bereits ein Drittel der Lieferanten kuhgebundene Kälberaufzucht. Wichtig sei auch, „dass die Verbraucher verstehen, dass für eine artgerechte Haltung Milch und Fleisch zusammengehören“.
Der Demeter-Berater Ulrich Mück hat die Beziehung zwischen beiden ausgerechnet und verschiedene Betriebssysteme einbezogen. Sein Ergebnis: Wer einen Liter Bio-Milch kauft oder 100 Gramm Bergkäse, müsste als Ausgleich dazu 25 Gramm Bio-Rindfleisch in den Einkaufskorb legen. Für das 250-Gramm-Päckchen Butter fallen 112 Gramm Rindfleisch an. Wer dieses Fleisch nicht essen will, müsste eigentlich vegan leben – oder sich einen Flexitarier suchen, der es abnimmt.
Initiativen zu kuhgebundener Aufzucht und/oder Bruderkälbern
... und für andere Brudertiere
Förderung und Forschung
Kommentare
Registrieren oder einloggen, um zu kommentieren.