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Antibiotika: Gefährliche Praxis in der Massentierhaltung

Immer mehr Antibiotika wirken nicht mehr, weil gefährliche Bakterien Resistenzen entwickeln. Schuld daran ist auch die industrielle Massentierhaltung. Höchste Zeit, gegenzusteuern.

Der Alptraum der Infektiologen heißt 4-MRGN. „Das Kürzel steht für bestimmte Bakterien, die gegen die vier wichtigsten Antibiotikagruppen resistent sind“, erklärt Professor Andreas Podbielski, Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie an der Universitätsmedizin Rostock. Besondere Probleme bereiten Escherichia coli und Klebsiella, zwei Bakterienarten, die im Darm leben und dort – ohne und mit Resistenzen – harmlos sind. Gefährlich werden 4-MRGN, wenn die multiresistenten Erreger mit Ausscheidungen in die Umgebung und in offene Wunden gelangen. Dort verursachen sie Infektionen, die sich kaum noch bekämpfen lassen. „Im schlimmsten Fall, wenn der Erreger nicht nur resistent sondern auch aggressiv ist, kann eine solche Infektion in wenigen Stunden zu einer tödlichen Sepsis führen“, sagt Podbielski. Noch sind Erreger der Kategorie 4-MRGN selten, doch die an das Robert-Koch-Institut (RKI) gemeldeten Fälle nehmen zu. Ebenso die Warnungen vor einer Welt, in der Antibiotika nicht mehr wirken.

Darum sind Antibiotika so wichtig

Noch vor 150 Jahren gab es keine wirksamen Mittel gegen Tuberkulose, Syphilis, Pest und viele andere Infektionskrankheiten. Sie waren die häufigste Todesursache, weit vor Herzinfarkt und Krebs. Erst als Wissenschaftler wie Louis Pasteur und Robert Koch Bakterien als Ursache solcher Krankheiten erkannten, begannen Ärzte und Chemiker, gezielt Wirkstoffe gegen diese Bakterien zu entwickeln. So kam 1910 als erstes Antibiotikum das von Paul Ehrlich entwickelte Salvarsan auf den Markt, ein Mittel gegen Syphilis. 1928 entdeckte Paul Fleming die antibiotische Wirkung von Schimmelpilzen, die zur Entwicklung des Wirkstoffes Penicillin Anfang der 1940er-Jahre führte. Kurz zuvor hatte das Pharmaunternehmen Hoechst mit der Produktion von Sulfonamiden begonnen. Beide Mittel retteten im Zweiten Weltkrieg Millionen verletzten Soldaten das Leben. Auf früheren Schlachtfeldern hätte sie der Wundbrand dahingerafft.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kamen zahlreiche Wirkstoffe hinzu und Antibiotika wurden zu Allerweltsmitteln, die schon bei kleinsten Infektionen verabreicht wurden. Damit begann das Problem.

Warum immer mehr Bakterien Resistenzen entwickeln

Denn Bakterien sind anpassungsfähig. Ist die Konzentration des Wirkstoffes zu niedrig oder der Erreger durch eine Mutation besser geschützt, kann er eine Antibiotika-Attacke überleben. Anschließend vermehrt er sich mangels Konkurrenz ungehindert und gibt diese Resistenz-Eigenschaft an die Nachkommen weiter. Hinzu kommt, dass Bakterien Resistenzgene auch untereinander tauschen. So können sich multiresistente Erregerstämme entwickeln.

Damit sich Antibiotika-Resistenzen nicht so leicht bilden, rät Mikrobiologe Podbielski dazu „so wenig Antibiotika wie irgend möglich einzusetzen“. Die meisten Antibiotika würden immer noch bei Atemwegsinfektionen verschrieben. „Doch diese werden zu zwei Dritteln von Viren verursacht, gegen die Antibiotika-Gaben sinnlos sind.“

Darum wirken viele Reserveantibiotika nicht mehr

Ganz verhindern lassen sich Antibiotika-Resistenzen durch weniger Verschreibungen nicht. Deshalb halten die Mediziner einige Antibiotika gezielt zurück, um damit Erreger zu bekämpfen, die gegen gängige Wirkstoffe resistent sind. Zu diesen Reserveantibiotika zählt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Cephalosporine der 4. und 5. Generation, die Fluorchinolone, Polypeptide und Makrolide. Doch immer mehr Erreger lassen sich auch von solchen Reserveantibiotika nicht mehr beeindrucken. In den vom RKI 2020 ausgewerteten Klinikproben etwa war jede sechste Escherichia-coli-Probe resistent gegen Fluorchinolone und jede zehnte ließ sich mit Cephalosporinen nicht mehr bekämpfen.

Schuld daran sind die Mediziner meist selbst. 2019 waren die Hälfte aller verschriebenen Antibiotika Reservewirkstoffe, hat das Wissenschaftliche Institut der AOK (WidO) ermittelt. Es mahnte die Ärzte, Reserveantibiotika nicht gegen gängige Infektionen wie Erkältungen einzusetzen, sondern nur im Bedarfsfall bei schweren bakteriellen Erkrankungen. „Je sorgloser sie verordnet werden, desto resistenter werden Bakterien gegen Antibiotika“, sagte Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer des WidO. Doch nicht nur Humanmediziner verschreiben Reserveantibiotika.

So viel Antibiotika wird in der Tiermast verabreicht

2019 wurden laut WidO 339 Tonnen Antibiotika ambulant beim Menschen eingesetzt. Zusammen mit dem Verbrauch der Krankenhäuser sind das etwa 400 Tonnen im Jahr. Darüber hinaus gaben Hersteller und Großhändler 2019 und 2020 rund 670 beziehungsweise 700 Tonnen Antibiotika an Tierärzte ab, meldete das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL).

Da Menschen und Nutztiere über 80 Prozent der bakteriellen Erreger teilen, sind auch die Wirkstoffe meist dieselben. Wie im Menschen können Erreger in Tieren Resistenzen entwickeln – die dann den Menschen gefährlich werden. Doch sind die Tiere wirklich so krank, dass sie mehr Antibiotika brauchen als die Menschen?

Warum Massentierhaltung Tiere krank macht

Wenn viele Tiere auf engstem Raum zusammengepfercht ohne frische Luft leben, dann ist das Infektionsrisiko hoch und Krankheiten verbreiten sich schnell. Hinzu kommt, dass für die Mast junge Ferkel und Kälber mit noch schwachem Immunsystem oft Hunderte von Kilometern transportiert und in spezialisierten Mastbetrieben zu neuen Gruppen zusammengesetzt werden. Stress und Vermischung führen bei den Tieren zu Durchfall und anderen Infektionskrankheiten, die behandelt werden müssen. Bei den auf Milchleistung gezüchteten Kühen gehören Euterentzündungen zum Alltag.

„Massentierhaltung funktioniert nur mit Antibiotika“, sagt der Tierarzt Rupert Ebner: „Das sind keine Arzneimittel für schwere Erkrankungen mehr, sondern Produktionsmittel wie Futter und Wasser.“ In der EU war es bis 2006 noch erlaubt, Antibiotika dem Futter gesunder Tiere beizumischen, um deren Appetit anzuregen. Auch jetzt noch darf der Tierarzt, wenn ein Tier krank ist, die ganze Gruppe oder den ganzen Stall behandeln. „Gesunde Tiere bekommen übers Wasser oder übers Futter Antibiotika“, erklärt Ebner. Diese Art der Anwendung sei ein wesentlicher Grund für Resistenzen in den Ställen.

Bakterien: tödliche Resistenz

  • Nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) infizieren sich jedes Jahr 400.000 bis 600.000 Menschen in Krankenhäusern mit Bakterien. Bei 10.000 bis 15.000 Patienten verläuft die Infektion tödlich.
  • Das RKI schätzt, dass 30.000 bis 35.000 der Krankenhaus-Infektionen auf resistente Bakterien entfallen – mit 1000 bis 4000 Todesfällen. Resistente Erreger sind also nicht der Normalfall – aber gefährlicher. Und ihre Zahl nimmt zu.
  • Rupert Ebner ist Tierarzt. Er behandelt seit 40 Jahren Nutztiere und war lange Zeit Vizepräsident der Bayerischen Landestierärztekammer. Seine Erfahrungen hat er in dem Buch „Pillen vor die Säue“ verarbeitet.

Darum muss sich die Nutztierhaltung ändern

Zahlen der europäischen Arzneimittelagentur zeigen, dass der Verbrauch an Antibiotika bei Nutztieren in Deutschland besonders hoch ist, verglichen etwa mit Dänemark oder den Niederlanden, wo auch Tiere unter industriellen Bedingungen gehalten werden. Das zeigt, dass sich der Antibiotikaeinsatz kurzfristig verringern lässt – wenn die Politik für sinnvolle Rahmenbedingungen und eine ordentliche Kontrolle sorgen würde. Auf Dauer aber braucht es eine andere Tierhaltung.

Bio-Betriebe zeigen schon jetzt, dass es geht, und halten ihre Tierbestände mit weitaus weniger Antibiotika gesund. Und verursachen dadurch weniger Resistenzen. „MRSA und ESBL/AmpC bildende E. coli kommen auch in der ökologischen Tierhaltung vor, aber seltener als in der konventionellen Tierhaltung“, hieß es in einer Präsentation des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) von 2018.

MRSA bedeutet Methicillin-resistente Staphylococcus aureus. Diese kugelförmigen Erreger sind gegen Penicilline resistent und leben vor allem in Nase und Rachen. ESBL (Extended Spectrum Beta-Lactamasen) und AmpC steht für Bakterien, die ein bestimmtes Enzym bilden und damit Antibiotika der Gruppe Cephalosporine unwirksam machen.

Warum kaum neue Antibiotika entwickelt werden

  • In den vergangenen zehn Jahren kamen nur elf neue antibiotische Wirkstoffe auf den Markt, schreibt der Verband der forschenden Pharmaunternehmen. Der Norddeutsche Rundfunk meldete im Herbst 2021: „Derzeit scheinen nur vier der 25 größten Pharmaunternehmen der Welt überhaupt noch an der Entwicklung neuer Antibiotika zu arbeiten.“
  • Der Grund: Große Umsätze lassen sich mit Antibiotika nicht machen, denn sie heilen effizient. Zudem werden neue Wirkstoffe, die gegen resistente Bakterien helfen, als Reserveantibiotika nur in Notfällen eingesetzt. „Die Pharmaindustrie fokussiert sich lieber auf Wirkstoffe, mit denen höhere Preise und höhere Umsätze erzielt werden können“, kritisiert das Wissenschaftliche Institut der Krankenkasse AOK (WidO).
  • Das WidO sieht eine mögliche Lösung darin, die Entwicklung von Antibiotika mit öffentlichen Mitteln zu finanzieren.

Immer mehr Erreger aus den Ställen sind nicht nur gegen gängige Antibiotika wie Penicilline resistent, sondern auch gegen Reserveantibiotika. Denn auch diese werden Nutztieren verschrieben. 2020 zählten nach Angaben des BVL 128 der verkauften 700 Tonnen Antibiotika zu den Mitteln, denen die Weltgesundheitsorganisation „höchste Priorität für die Humanmedizin“ einräumt. Seit Ende Januar gilt eine neue EU-Tierarzneimittelverordnung, die es der EU-Kommission erlauben würde, bestimmte Reserveantibiotika für die Humanmedizin zu reservieren. Doch die Kriterien dafür seien so formuliert, dass sie „kaum etwas an der derzeitigen Praxis ändern würden“, kritisiert die Bundesärztekammer. Sie fordert von der Kommission vorbeugende Maßnahmen, die den Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung deutlich reduzieren. „Solche Maßnahmen sollten gefördert werden, etwa durch Umbau der konventionellen in eine ökologische Tierhaltung“, schreibt die Bundesärztekammer.

Interview: „Tiere müssen einzeln behandelt werden“

Rupert Ebner ist Tierarzt. Er behandelt seit 40 Jahren Nutztiere und war lange Zeit Vizepräsident der Bayerischen Landestierärztekammer. Seine Erfahrungen hat er in dem Buch „Pillen vor die Säue“ verarbeitet.

Die Menge der an Tierärzte abgegebenen Antibiotika hat sich seit 2013 halbiert. Ist doch gut, oder?
Die verbrauchte Menge in Tonnen sagt nichts aus, denn es gibt Mittel, die mit 20 bis 30 Milligramm je Kilo Körpergewicht eingesetzt werden – und welche mit 300 bis 400 Milligramm pro Kilo. Wenn ich ein solches ersetze, minimiere ich die Menge auf dem Papier. Darüber, wie oft Antibiotika eingesetzt werden, sagt es aber nichts aus.

Für jede Antibiotikagabe muss der Tierarzt dem Bauern einen Beleg ausschreiben.
Wenn es überhaupt einmal zu einer Kontrolle auf dem Hof kommt, sind die betroffenen Tiere meist nicht mehr im Stall. Der Kontrolleur kann also nur überprüfen, ob der Beleg richtig ausgefüllt wurde. Aber nicht, ob das Medikament notwendig war und sachgerecht eingesetzt wurde.

Werden Antibiotika unnötig verschrieben?
Ich sage es mal so: Wenn ein Schweinebauer am Ende der Mast für 100 Euro Antibiotika verfüttert, kann er für 500 Euro mehr Fleisch verkaufen, weil die Tiere durch Antibiotika zunehmen. In Deutschland ist es bei Kälbern, Schweinen und Geflügel immer noch üblich, dass eine ganze Gruppe oder sogar der ganze Stall behandelt wird, wenn ein Tier krank ist. Und ein krankes Tier findet sich immer oder zumindest krankmachende Erreger in Kotproben.

Aber Landwirte müssen doch auch angeben, wie oft sie Antibiotika einsetzen.
Dieser Ansatz ist auch gut, hat aber Schlupflöcher. Ferkelerzeuger und Milchviehhalter etwa sind ausgespart. Das System erlaubt gewisse Einblicke und würde es einer guten Veterinärbehörde erlauben, einzugreifen. Doch Behörden und Staatsanwälte verfolgen Arzneimittelmissbrauch im Stall noch weniger als Tierschutzvergehen.

Braucht es strengere Regeln?
Es müsste dringend vorgeschrieben werden, dass Tiere einzeln behandelt werden. Außerdem muss die Haltung so gestaltet werden, dass der Landwirt kranke Tiere zeitig erkennt, sie isolieren und behandeln kann. Auch sind die gesetzlich erlaubten Rückstandsmengen in Lebensmitteln viel zu hoch. Um Allergiker zu schützen, müsste auf der Fleischpackung eigentlich stehen: ‚Kann Spuren von Antibiotika enthalten.’

Was läuft in der Tiermedizin noch schief?
Das Rabattsystem für Tierarzneimittel muss weg, weil es spezialisierte Großpraxen extrem bevorzugt. Ich kaufe ein Gebinde Antibiotika für 100 Euro und verkaufe sie für 127,50 Euro an den Landwirt. Die Großpraxis kauft sie für 35 Euro und gibt sie für 95 Euro weiter. Da kann der Verkauf von Antibiotika schnell zum Geschäftsmodell werden.

Mehr zum Thema

Im Web:

Deutsche Umwelthilfe

Deutsches Zentrum für Infektionsforschung

Germanwatch

Infos der Deutschen Seniorenliga für die Altenpflege

Robert-Koch-Institut

Bücher:

Ebner, Rupert; Rosenkranz, Eva: Pillen vor die Säue – Warum Antibiotika in der Massentierhaltung unser Gesundheitssystem gefährden. Oekom Verlag, 2021, 256 Seiten, 20 €

Moelling, Karin: Kampf den Keimen – Mit Viren aus der Antibiotika-Krise? Verlag F. Pfeil, 2020, 200 Seiten, 15 €

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